Wertschätzung

Wertschätzung

Ich kaufe und verkaufe seit 23 Jahren online Geschirr. Seit kurzem habe ich eine Facebookgruppe, die "Porzellanladen - Gruppe für Porzellanbegeisterte". 

Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, diese ganzen wundervollen Porzellanservices abzulehnen, die ich täglich mindestens ein Dutzend Mal angeboten bekam. Ich dachte, dass irgendwo bestimmt ein Interessent genau DIESES Geschirr sucht oder braucht. Diese beiden Komponenten wollte ich zusammenbringen: Topf und Deckel - Teetrinker und Teetasse - Hungerhabender und großer Speiseteller.

Und vor allem fand ich die Kommentare nach meiner Ablehnung so gruselig:

✅ "Dann klopp ich es halt in die Tonne"

✅ "Dann werfen wir es beim nächsten Polterabend mit Schwung auf die Straße und erfreuen uns am Scheppern. Das macht richtig Spaß."

✅ "Dann ab zur Mülldeponie damit"

Am liebsten würde ich sofort dahin fahren und das Porzellan retten. Selbst wenn ich Vorschläge machte, wie das Geschirr zu verschenken oder es in Sozialkaufhäusern abzugeben, wurde ich meist noch belächelt. Es sollte sich ja niemand daran bereichern und die zwei Kilometer wollte auch niemand fahren. Viel zuviel Mühe.

Trotzdem hörte ich bei diesen Kommentaren schon bei der Wortwahl immer eine gehörige Portion Aggression heraus. Da wird gescheppert und geklirrt und mit weitem Schwung geworfen. Etwas, das sie mir ein paar Zeilen vorher als neuwertig und wunderschön für ein paar Hunderter angepriesen haben, wird lieber vernichtet als dass ein anderer Mensch einen Vorteil davon haben könnte.

Ähnlich lauten auch manche Kommentare unter meinen Beiträgen. Mein letzter Post über Wildrose hatte noch nicht mal einen Text. Nur ein Foto von meinem Einkauf und ein Smiley. Und trotzdem ging er mini-viral:

bisher 4.234 Likes, 1.112 Kommentare und 147 mal geteilt.

Die meisten Kommentierenden fragten, wo man das Geschirr denn kaufen kann oder schrieben, wie sehr sie ihr Wildrose lieben und wie viele Jahre sie es schon haben. Dazwischen immer wieder die Nörgler und Besserwisser, die von ihrem Nachbarn rechts und ihrem Nachbarn links gleich auf die ganze Menschheit verallgemeinern:

Porzellan ist total out

niemand gibt sich mehr Mühe beim Tischdecken

niemand kauft mehr Geschirr (im allgemeinen) und

❌ Wildrose (im besonderen) ist altmodisch und häßlich, das kauft gar keiner

das gibt es im Sozialkaufhaus in Hintertupfingen geschenkt

❌ auf den Flohmärkten bekommt man es nachgeworfen 

alle Jungen (ob das jetzt alle Teenager bis 18 Jahre sind oder die jüngere Generation bis 60 erschließt sich nicht aus dem Text) kaufen ihre Teller und Tassen bei Ikea oder

❌ essen immer bei McDonalds aus Plastikverpackungen (täglich 3x)

Sie sind alle so damit beschäftigt, ihr Wissen bei Facebook preiszugeben, dass sie all die anderen Kommentare gar nicht lesen. Interessiert nicht. Am liebsten würde ich ja immer nach der Intention dieser in Stein gemeißelten Ansichten fragen. Möchten Sie mir damit sagen, dass ich jetzt meinen Shop aufgeben muss, weil sie - und nur sie - die Wahrheit kennen? Und ich Dummbaddel ohne ihr Wissen nicht erkannt habe, dass ich das seit 23 Jahren einfach nur meine Zeit vergeude?

Aber ob jetzt Aggression, Besserwisserei oder Wichtigtuerei - auch wenn ich manchmal explodieren könnte, ich werde diese Menschen nicht ändern. Weil ihnen etwas fehlt, das ich ihnen nicht geben kann:

                                    Wertschätzung

Wertschätzung für Dinge und auch Wertschätzung für andere Menschen und ihre Meinungen:

 

* Wertschätzung für Sachen, die anderen Menschen wichtig sind

* Wertschätzung für alte Sachen, die über Jahrzehnte für eine ganze Familie wichtig waren

* Wertschätzung für Menschen, die eine andere Meinung haben

* Wertschätzung für Erinnerungen, die auf einen Klick wie aus dem Nichts heraus Emotionen hervorrufen

 

Wertschätzung bedeutet nicht, mit dem Gegenüber einer Meinung zu sein.

Wertschätzung bedeutet, dessen Meinung zu respektieren.

 

Natürlich muss Wildrose nicht jeden begeistern. Aber hat es nicht viel mehr Respekt und Anstand, einfach zu sagen: "Mir gefällt es nicht. Aber wie schön, dass du dich darüber freuen kannst!"

Oder auch: "Bevor ich ein Service wegwerfe, das mir nicht gefällt, mache ich mir die Mühe, jemanden zu finden, der sich schon immer so etwas gewünscht hat, es sich aber nicht leisten konnte".

Oder "Ich gebe es gerne jemandem mit, der sich die Arbeit macht, es auf dem Flohmarkt zu verkaufen oder bei Ebay einzustellen, damit derjenige sich eine Kleinigkeit dazu verdienen kann."

 

Vielleicht gibt es dem einen oder anderen ein gutes Gefühl, das doofe Geschirr bei einer Haushaltsauflösung mit Schwung in den Container zu werfen, weil man damit gewissermaßen Ballast loswird. Aber was ist dieses Gefühl gegen das Gefühl, dass man weiß, dass ein anderer sich noch lange Zeit bei jedem Tischdecken daran erfreuen wird? 

 

 

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